Jedes Mal, wenn ich während meiner Zugreise die Metalltreppe in das Zugabteil betreten habe, fragte ich mich, was wohl auf diesem Abschnitt passieren würde, dass mich ganz besonders überrascht. Was wird mir dieses Mal in Erinnerung bleiben?
Lieber Bodi, dieses Mal warst du es. Ich danke dir für dein strahlendes Lächeln, auch wenn der Zug mal wieder (gut, immer wieder) zum Stehen kam. Ich danke dir für all die Scherze über die wir im Panoramawagen gelacht haben. Dein tiefes, warmes und ehrliches Lachen hallt noch heute oft durch meine Ohren. Ich danke dem Universum für den unglaublichen Zufall, dass unsere Zugfahrt nicht das Ende unserer Geschichte war. Bodi, ich danke dir für deine Fürsorge, dein Großzügigkeit und deine alles und jeden einnehmende Herzlichkeit. Ich danke dir, dass du mir gezeigt hast, wie wichtig es ist, nicht aufzugeben, daran zu glauben, dass überall Menschen lauern, die einem die Schultern wieder stärken, wenn sie von der Last geschwächt sind. Auf bald, mein Freund!
Pommes im Bus und Muckis am Strand
Es ist mein letzter Tag in Los Angeles. Den möchte ich an meinem Lieblingsort, dem Venice Beach, verbringen. Zwei Nächte habe ich schon in meinem Zimmer in den Montecito Heights verbracht und das Viertel auch tagsüber nicht verlassen. Als ich das Zimmer gebucht habe, sah es recht zentral gelegen aus, doch der Verkehr in Los Angeles lässt fast jede Fahr in einer unendlichen Geschichte enden.
Gleich am ersten Tag wollte ich ans Meer. Ich setzte mich ganz optimistisch in den Bus nach Downtown. Dort blieb ich dann auch. Nach fast anderthalb Stunden hatte ich nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter mir. Ich trank einen Kaffee, kaufte Proviant und Tröstekuchen bei Whole Foods ein und fuhr zurück in meine Wohnung.
Heute sitze ich wieder im Bus. Eben saß noch eine freundlich lächelnde Portion Pommes neben mir. Die stieg an der letzten Haltestelle aus und fuhr mit ihrem Skateboard davon. Es ist Halloween. Jetzt fixiere ich das goldene Klebe-Tattoo meiner Sitznachbarin vor mir, dass bei jeder zweiten Bewegung in ihrer Halsfalte verschwindet. Busfahren in Amerika ist noch spannender als Zugfahren.
An der Ecke Metro Center und 7th Street steige ich in die neue blaue Linie 806 der Metro ein. Sie bringt mich direkt nach Santa Monica. Obwohl wir uns nicht wie die Busse durch die verstopften Straßen drängeln müssen, dauert die Fahrt mit den 18 Haltestelen immer noch 48 Minuten.
In Santa Monica angekommen, rieche ich schon das Meer und gehe schnurstracks Richtung Pier. Ich komme an zahlreichen Fahrradverleihen vorbei und es juckt mir in den Radfahrer-Beinen. Es ist aber schon früher Nachmittag und ich bin zu geizig, jetzt noch 15 Dollar Tagespauschale zu zahlen.
Ich höre die Möwen kreischen und merke, wie meine Schritte schneller werden. Fix noch die Grünphase bei der Ampel an der Ocean Avenue erwischt und schwups – da ist er! Der riesige breite Sandstrand von Santa Monica und der endlos scheinende Pazifik. Mein Schritte werden wieder langsamer. Ich atme die Meeresluft tief ein und beobachte Familien beim Picknicken, Teenies beim Sonnenbaden und Pärchen, wie sie Selfies am Strand machen, während ich den Pier entlang schlendere.
Für die lange Anreise belohne ich mich mit einem Eis. Als ich mich nach rechts drehe und genüsslich an meiner Kugel Salted Caramel Cream schlecke, muss ich vorsichtig sein, dass ich nicht mit heraushängender Zunge stehen bleibe. Ich bin fassungslos und kann nicht anders, als einen Herren mittleren Alters, der lediglich mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet ist, anzustarren, wie er gerade zu ohrenbetäubender Techno-Musik tanzt, hüpft und sich immer wieder an einem Laternenpfahl rubbelt.
„Jetzt dreh’ dich weg“, ermahne ich mich selbst und spaziere um die Ecke, um mich auf eine Bank zu setzen und den Strand entlang bis nach Venice zu sehen. „Ich komme, Lieblingsstrand, gleich bin ich da! Ich esse nur noch schnell das Eis.“
Unter mir planschen Kinder im Wasser. Jogger laufen barfuß und mit nacktem, gestähltem Oberkörper durch die Sonne. Als ich mein Eis aufgegessen habe, gehe ich auf dem Fußweg am Wasser entlang zum Venice Beach. Es dauert nicht lange, bis mir die erste Bulldogge auf einem Skateboard entgegen kommt und mir ein Rastafari zuruft, dass ich mal herschauen soll, wie toll er auf den Händen laufen kann. Wie kann man diesen verrückten Ort nicht lieben?
Ich gehe weiter bis zum Muscle Beach, wo die Bodybuilder unter freiem Himmel an verrosteten Geräten ihre Muskeln stählen. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, finde ich knubbelige Muskelarme und Waschbrettbäuche gar nicht attraktiv. Trotzdem oder gerade deswegen komme ich hier gerne hin, um ungeniert dabei zuzusehen, was extremes Krafttraining anrichten kann. Nach einer Minute fast ekstatisch anmutenden Stöhnens springt ein Sportler von der von Hebebank mit den zerrissenen Lederkissen auf. Er hat das breiteste Kreuz, das ich je gesehen habe. Er scheint viel dafür zu arbeiten und dabei jedoch seine Beine zu vergessen. Dass die kleinen Streichhölzchen diesen riesengroßen Oberkörper halten können, wundert mich kolossal.
Die Sonne geht langsam unter. Ich stecke ein letztes Mal meine Zehen in den Sandstrand und schaue zu, wie dass hellgelbe Sonnenlicht in orange und rot übergeht, bevor ich mich auf die stundenlange Heimfahrt begebe.
Jedem seinen Trip
Als ich morgens aufstehe, ahne ich noch nicht, dass die nächste Bahnfahrt eine der verrücktesten Episoden meiner dreimonatigen Reise sein wird.
Ich gönne mir ein Uber zur Union Station. Alles andere würde mir schon vor der Zugfahrt den letzten Nerv rauben. Der Texas Eagle fährt um 22 Uhr nach El Paso ab. Das ist die Stadt, in der bald eine hohe Mauer stehen könnte, wenn es nach dem hoffentlich nicht zukünftigen Präsidenten Donald Trump ginge, denn sie liegt mit einer Hälfte auf amerikanischer und mit der anderen Hälfte auf mexikanischer Seite. Dort heißt sie Juárez.
Ich habe ein Kribbeln im Bauch, denn auf den nächsten Streckenabschnitt freue ich mich besonders. Diese Bahnreise wird mich nach Texas bringen. Vor drei Jahren war ich, während eines Roadtrips von New Orleans nach Austin, zum ersten Mal in Texas. Ich hatte viele Vorurteile dem Lone Star Staat gegenüber. Er erschien mir immer sehr traditionell, konservativ und auf unerklärliche Weise unnahbar. Doch direkt bei meiner ersten Begegnung mit einem Texaner, wurde ich eines Besseren belehrt. Sie fand an einer Buccee’s Raststätte am Highway 10 statt. Nicht, dass mich dieser ganze Laden an sich schon umhaute, weil er so unfassbar riesig war; es gab sogar eigenes Buccee’s Merchandise. Der Biber auf dem Logo ist auch einfach zu niedlich!
Als ich staunend durch die Gänge schlenderte, begrüßte mich ein Mann freundlich. „Hi! Wie geht es dir?“ „Sehr gut. Entschuldige bitte, ich muss seltsam aussehen, wie ich hier mit offenem Mund staunend durch die Gänge laufe.“ „Haha! Nein, das ist es nicht. Du siehst sehr nett aus. Wo kommst du her?“ „Aus Deutschland.“ „Oh, wow. Ich war mal in Grafenwöhr stationiert, als ich noch in der Army war. Ich vermisse das Bier.“ Herrlich, ein in Deutschland stationierter Amerikaner und ein Gespräch über Bier; Platitüden-Austausch deluxe!
Wir unterhielten uns noch ein wenig über den schönen Sommer, den er damals hatte und die hübschen Frauen, bevor wir uns verabschiedeten. An der Kasse traf ich ihn wieder. Er zahlte gerade und ich hörte wie er zu der Kassiererin sagte: „Das wär’ alles, aber den Kaffee der Lady setzen sie bitte mit auf meine Rechnung!“ Nachdem der Mann mich schon mit offenem Mund staunend kennengelernt hatte, macht es wohl nichts, dass ich ihn mit eben gleichem verabschiede. „Oh, vielen Dank! Das ist sehr freundlich von Ihnen.“
Noch beflügelt von diesem ersten, sehr freudigen, Zusammentreffen mit einem Texaner, marschierte ich zum Auto zurück. Nicht ahnend, dass zahlreiche weitere Überraschungsmomente wie diese in Texas auf mich warteten und ich mich Hals über Kopf in den Bundesstaat verlieben würde.
Meine heutige Zugfahrt bringt mich also zurück nach Texas, wo ich zunächst El Paso besuchen möchte, um dann nach San Antonio weiter zu fahren. Dort werde ich meine Zugreise für knapp zwei Wochen unterbrechen, um zu sehen, ob aus anfänglicher Verliebtheit tiefere Zuneigung, wenn nicht gar Texas-Liebe entsteht.
Als ich mir noch schnell einen Salat bei Subway hole, höre ich, wie unser Zug ausgerufen wird. Wir sollen uns zu Schalter 7 begeben, wo die Verteilung der Sitzplätze stattfindet. Ich stelle mich mit anderen Fahrgästen in die Warteschlange. Hinter mir steht Keith. Er ist barfuß und hat einen großen Waschsack voller Klamotten dabei. Er trägt eine olivfarbene weite Leinenhose, die aussieht wie ein Kartoffelsack, aber einen guten Kontrast zu seinem farbenfrohen Batik-Shirt bietet. Einige seiner grundsätzlich schulterlangen Dreadlocks sind abgebrochen und die Reste stehen wirr vom Kopf ab. Er ist sehr hager und hat ein zahnloses Lächeln.
„Wow, dein Rucksack sieht schwer aus. Bist du auch unterwegs?“ Ich bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll, schließlich warten wir beide auf unseren Zug. Also, ja, bin ich wohl unterwegs. Ich ahne, dass er es anders meint.
„Ich fahre gerade kreuz und quer mit dem Zug durch die USA“, erkläre ich ihm und erzähle, welche Staaten noch vor mir liegen und in welchen ich bereits war. „Wow, das ist echt cool. So frei. Wo willst du denn hin?“ „Nach El Paso!“ „Ah, cool. Kurz nach Mexiko rüber, was?“ „Ja, das möchte ich auch gerne.“ Ich befürchte immer noch, dass wir aneinander vorbei reden. „Nach Denver kommst du auch noch, ne? Da kriegst du auch vieles. Aber ey, ja, in Mexiko ist alles viel billiger.“ Ich frage Keith, wohin er unterwegs ist. „Ich will nach New Orleans. Yeah! Mal gucken, was da so geht. Ich mag Musik, ne, und kann da bei einem Kumpel pennen. Find’ ich voll cool, was du machst. So reisen und so. Ich mach’ das ja auch.“
Keith erzählt mir von seinem Leben; er möchte rumreisen und frei sein. Er will sich nicht sozialen Zwängen unterwerfen; was ich direkt in „Ich will nicht arbeiten“ übersetze. Aber so unterschiedlich wie wir hier in der Schlange von wartenden Zugreisenden aussehen mögen, umso ähnlicher sind wir uns. Wir glauben beide voneinander, dass wir total frei sind, aber jeder ist doch in seiner eigenen freien Welt gefangen. Er in seinem Irrglauben, dass der Drogenrausch ihn frei macht, ich in dem Irrglauben, dass das „frei“ in freiberuflich wirklich etwas mit Freiheit zu tun hat.
Als wir an der Reihe sind und unseren Papierschnipsel mit der Platznummer erhalten, gehe ich noch schnell zur Toilette und verliere Keith dabei aus den Augen. Beim Einsteigen sehe ich ihn im unteren Abteil sitzen und winke, als ich die Treppe nach oben steige, um meinen Platz zu suchen. „Ich wünsche dir Freiheit im Herzen“, rufe ich ihm dabei zu; und wünsche mir das Gleiche.
Die Morgensonne über der Wüste
Bei der heutigen Zugfahrt habe ich eine Sitznachbarin. Ein freundliches junges Mädchen namens Josey. Wir halten einen kurzen Smalltalk, bevor ich in den Panoramawagen, das sogenannten Lounge Car, eile. Hier sitze ich am liebsten. Es ist eine Art Gemeinschaftsraum mit großen Fenstern und gläsernem Dach. Einige Sessel sind den Fenstern zugewandt, so dass die Landschaft einem direkt vor der Nase vorbei rauscht. Es gibt auch Sitzbänke mit Tischen. Dort sitze ich meist und richte mir mein mobiles Zuhause ein. Ich starre in die Ferne und lasse mich von der Weite inspirieren, um dann wie wild auf den Tasten meines Computers herumzuhacken, in der Hoffnung, dass ich meine ganzen Gedanken und Gefühle für immer konservieren kann.
Manchmal dient das Buch oder der Computer aber auch als eine Art Schutzschild. Im Panoramawagen kommen alle Menschen immer nach wenigen Minuten miteinander ins Gespräch. Es ist ganz wunderbar, wie sich alle ihre Geschichten von dem „Wo komme ich her“ und „Wo will ich hin“ erzählen. Nicht selten endet die zunächst oberflächliche Konversation in philosophischen Gesprächen über den Sinn des Lebens oder einem Streit, welches Football-Team nächste Saison gewinnen wird.
Es ist bereits dunkel und ich bin auf dem Sprung zu meinem Platz, um mich schlafen zu legen, da spricht mich Jeffrey von schräg gegenüber an. In seinem langen schwarzen Gewand mit den gold bestickten Säumen und seinem blinkenden Schmuck, muss ich an Eddy Murphy in „Der Prinz von Zamunda“ denken, obwohl er da niemals so ein Gewand trug.
„Hey, Girl! Wo kommst du her?“ „Hi Sir, aus Deutschland!“ „Uuuuuh, damn Girl! Ich hatte mal eine deutsche Freundin. Starke Frauen seid ihr, stark!“ Dem möchte ich nichts entgegensetzen. Während Jeffrey diese simple Aussage tätigt, schleichen sich weitere gefühlt sieben Sätze ein. Ich verstehe nur Worthappen. Von der Melodie her könnte es eine heimlich eingeflochtene Predigt sein. Ich kann ihm nicht folgen. Er löchert mich mit weiteren Fragen und ich versuche zumindest eine zu beantworten, obwohl er selbst die Antworten schon in den Raum schreit. Eine wahrhaft verrückte Konversation, nein, mehr ein Monolog, in den ich versuche einzusteigen. Gerade als Jeffrey Luft holt, nutze ich die Gunst der Sekunde und erkläre ihm, dass ich jetzt müde sei und ins Bett gehe. Er scheint mich zum Abschied mit seinen Worten zu segnen. Ich kann dem spinnerten Palaver nicht folgen.
Ins Bett gehen ist in diesem Fall auch übertrieben. Ich habe kein Bett im Schlafwagen gebucht, sondern sitze in der normalen Coach-Class oder anders: Holzklasse. Dort gibt es nur stinknormale, aber sehr gemütliche Sitze. Wenn ich die Lehne ganz nach hinten stelle und die Fußstütze hochklappe, ist es recht gemütlich. Fast komfortabel ist es, wenn ich einen Doppelsitz für mich alleine habe, was heute nicht der Fall ist. Dafür habe ich habe den Fensterplatz ergattert. Ich stopfe meinen Schal zwischen das Fenster und meinen Kopf und lasse mich in den Schlaf schunkeln. Bei unserem Halt in Yuma, Arizona, mitten in der Nacht, steigt Josey aus. Im Halbschlaf lächele ich ihr zu und lege mich direkt quer über beide Sitze, um direkt wieder einzuschlummern.
In den frühen Morgenstunden kitzelt die über der Wüste aufgehende Sonne meine Augenlider auf. Es hängen noch dicke Wolken über der Steppe, die ihre Schatten auf die Prärie werfen. Kleine grüne Büschel, die aus dem Sand empor wachsen, zeugen von kürzlich gefallenem Regen. Am Horizont sehe ich die Umrisse von Bergen, durch die die orangene Morgensonne schimmert. Das ist einer meiner Lieblingsmomente im Zug durch Amerika; wenn ich abends die Sonne untergehen sehe, weiß ich, dass am Morgen die ersten Sonnenstrahlen vermutlich auf eine ganz andere Landschaft scheinen werden. Ich recke mich und packe meinen Rucksack, um meinen Büroplatz im Panoramawagen einzurichten.
Zwei Verhaftungen und ein Notfall
In dem Lounge Car herrscht schon emsiges Treiben. Ich bekomme den Platz am Ende des Waggons, von dem aus ich das ganze Abteil überblicken kann. Während ich meine Erinnerungen an Venice Beach notiere, blicke ich immer wieder über den Rand meines Computers, um einen jungen Herren zu beobachten. Er sitzt auf einem der Sessel, die zum Fenster gedreht sind und hält eine Marionette hoch, mit der er sich ganz angeregt unterhält. „Schau’ das ist die Wüste. Ist die Wüste nicht schön?“ „Oh, wie toll! Ich war noch nie in der Wüste“, antwortet die Marionette mit einer verzerrt hohen Quietsch-Stimme, während sich die Lippen von dem Mann bewegen. Auf nüchternen Magen ist mir das alles zu viel. Ich hole mir einen Kaffee und einen Donut von der Bar, die sich im unteren Teil unseres Abteils befindet.
Als ich wieder nach oben komme, höre ich Geschrei. Es kommt aus dem Speisewagen, zu dem gerade sämtliche Zugbegleiter eilen. Alle Köpfe der Reisenden recken sich in die gleiche Richtung. Wir wissen nicht so recht, was vor sich geht. Ich setze mich wieder an meinen Platz.
Kurz vor Deming halten wir außerplanmäßig. Der Zug ist so lang, dass er zwei Bahnübergänge blockiert. Plötzlich kommt die Polizei angerast und vier Officer betreten den Zug. Mit forschen Schritten stampfen sie durch den Panoramawagen zum Restaurant. Kurz darauf öffnet sich die Tür und sie kehren zurück. Vor sich her schieben sie einen tobenden Jeffrey, der sich mit aller Kraft wehrt und wie auch gestern Abend wilde unsinnige Predigten aus sich herausschreit. Als die Truppe an mir vorbeigeht, gucke ich starr aus dem Fenster, aus Angst, Jeffrey könne mich erkennen und der Polizei sagen, dass ich zu ihm gehöre. Ihm ist vermutlich alles zuzutrauen. Aus dem Fenster sehe ich schließlich dabei zu, wie Jeffrey auf die Rückbank des Polizeiautos gedrückt wird. Als sich das Polizeiauto entfernt, ruckelt der Zug und wir fahren weiter.
Wir können nur wenige Minuten gefahren sein, da hält der Zug schon wieder. Niemand weiß warum. Oftmals müssen Personenzüge (die nur ein paar dusselige Tickets verkaufen) halten, weil grundsätzlich Frachtzüge (die wahrscheinlich ein halbes Vermögen transportieren) Vorfahrt haben.
Ohne die Zuggeräusche höre ich den alten Mann drei Bänke vor mir noch lauter schnaufen. Ich sehe ihm an, dass er große Schmerzen hat. Schon den ganzen Morgen wälzt er sich auf seinem Sitz hin und her. Er stöhnt und atmet schwer. Er möchte aber auch mit niemandem reden, ein paar Passagiere haben es schon versucht. Es ist sogar so schlimm, dass der Zugbegleiter ihm anbietet, dass er sich in einen fast leeren Waggon setzen darf. Das freundliche Angebot ist in Wahrheit eine Bitte, denn der Mann verunsichert einige der Reisenden. Der Zugbegleiter hebt den Arm des Mannes um seine Schultern und bringt ihn aus dem Panoramawagen.
„Meine Güte, das ist ein Höllenritt heute“, schmettert ein anderer, freundlich lächelnder Zugbegleiter in den Raum, als er direkt neben mir ins Abteil tritt. Ich lache. „Was ist denn los, warum stehen wir schon wieder?“ „Oh Honey, das möchtest du gar nicht wissen!“ „Dir ist schon klar, dass ich es jetzt erst recht wissen möchte, oder?“ Der Zugbegleiter nimmt kichernd auf der Bank gegenüber Platz. „Also, es war so: als wir wegen der Verhaftung des Verrückten in Deming hielten, kam ein blinder Passagier an Bord. Wir hätten das ja vielleicht gar nicht bemerkt bei der ganzen Aufregung, wenn er sich einfach heimlich, still und leise ein Plätzchen gesucht hätte. Aber er zog es vor, splitterfasernackt, Arme in die Höhe werfend und sein Gemächt schwingend durch den Zug zu laufen.“ Ich pruste los. „Also bei mir ist er nicht vorbei gekommen, schade.“ Der Zugbegleiter haut sich lachend auf die Schenkel. „Wo fährst du hin, meine Liebe?“ „Wenn ich dir das erzähle, erklärst du mich für verrückt! Mein nächster Stopp ist El Paso, aber ich fahre gerade zwei Monate lang durch 38 Bundesstaaten mit dem Amtrak.“ „Bitte was machst du? Das ist der Wahnsinn. Da muss ich später dringend auf einen Plausch vorbei kommen, auch wegen der tollen Kamera. Auf die hab’ ich vorhin schon ein Auge geworfen. Jetzt muss ich aber erstmal nachsehen, wie weit die Polizei mit dem Nackedei ist. Hier, die USA Today lasse ich dir da. Ich bin übrigens Bodi.“ „Danke vielmals, Bodi. Ich bin Evelyn.“
Gerade als Bodi geht, kommt der alte kranke Mann zurück. Mit gebrochener Stimme fragt er mich, ob es hier irgendwo etwas zu essen gäbe. Ich helfe ihm die Stufen zur Bar hinunter und kehre an meinen Platz zurück, während der Zug langsam anrollt.
Nach wenigen Zugkilometern setzt sich am Nebentisch ein angetrunkener Herr zu einer Dame, die sehr adrett gekleidet ist, und verwickelt sie in ein Gespräch. Ich höre, wie er ihr erzählt, dass er im Irak stationiert ist und gerade beurlaubt wurde. Die Frau fragt, wie oft er schon dort gewesen sei und der Mann erzählt lallend krude Geschichten. Als ich gerade auf ihrer Seite des Zuges aus dem Fenster blicke, meinte der Mann, dass ich in anstarre. „Ey, was wirfst du mir so dreckige Blicke zu?“ „Entschuldigung, ich sehe nur aus dem Fenster.“ „So ein Quatsch, du guckst mich schräg an, weil ich im Irak bin.“ Die Dame pflichtet ihm bei. „Lassen sie sich nicht verwirren, die junge Generation weiß die Menschen im Kriegsdienst einfach nicht mehr zu schätzen.“ Zum Glück kommt Bodi in diesem Moment wieder vorbei.
„Hey Süße, wie geht’s meiner Kamera“, fragt er augenzwinkernd und stellt mir nebenbei eine Flasche Wasser auf den Tisch. „Dass du mir nicht verdurstest!“
Die Lautsprecher des Abteils knarzen. Es ist Mittag und der Bar-Chef möchte gleich in die Pause gehen. Falls wir noch einen Snack haben möchten, sollen wir uns bitte schleunigst zu ihm auf den Weg machen. Das ist meine Chance, dem Kriegsdrama neben mir zu entkommen. Ich komme nicht weit, denn als ich die Treppe hinunter gehen will, kommt mir der Bar-Chef entgegen und sagt, dass die Bar bereits geschlossen ist, es gäbe einen Notfall. „Herrje, nicht noch ein Nackter, bitte.“
Es scheint etwas ernstes zu sein, denn nur wenige Sekunden später, wird in der Cafeteria nach einem Arzt verlangt. Ich ahne, dass es sich bei dem Notfall um den alten Mann handelt, der sich mit letzter Kraft zur Bar geschleppt hat. Und richtig, als wir am nächsten Bahnhof halten, sehe ich, wie ein Krankenwagen bereits auf unseren Zug wartet und der alte Mann auf einer Trage abtransportiert wird.
„Traurig, nicht wahr?“ Mir gegenüber sitzt plötzlich eine grauhaarige Fee mit wallendem Kleid und einem Gefrierbeutel voller Strickzeug. „Ja, sehr. er hat die ganze Fahrt über schon so gelitten.“ Wir stellen uns einander vor. Die Elfe heißt Ingrid. „Könnt auch ein deutscher Name sein, nicht? Ich war 17 Jahre lang mit einem Deutschen verheiratet. Ein furchtbar angsteinflößender und herrschsüchtiger Mann. Ich hatte keine schöne Zeit mit ihm. Aber unsere Reisen nach Deutschland haben mir immer gefallen. Wo kommst du her?“ „Gerade wohne ich in Berlin, aber ich komme ursprünglich aus der Nähe von Hamburg, vom Land. Ich lebe lieber auf dem Land.“ „Kindchen, dann muss du mich unbedingt besuchen kommen. Nachdem mein Mann gestorben ist, habe ich mir ein kleines Häuschen nahe Santa Barbara gekauft. Die Gespräche mit meinen Katzen und Pflanzen sind so viel liebevoller als mit meinem Mann.“ Ich lasse die Information auf mich wirken und hake einen Besuch direkt ab. Die Waggontür öffnet sich scheppernd. Bodi schlendert wieder an mir vorbei und streicht über meine Kamera. „Wie geht’s meiner Kamera?“ „M e i n e r Kamera geht es ganz hervorragend.“ Er ist so putzig. Ich entschuldige mich bei der wirren Fee und erkläre, dass ich noch ein bisschen arbeiten müsse. Eine gute Ausrede, um an meinen alten Platz zurückkehren zu können.
Ich tippe ein bisschen auf den Computertasten herum, ohne wirklich produktiv zu sein. Flake, der Keyboarder von Rammstein, veröffentlichte kürzlich ein Buch mit dem Titel Tastenficker. Darüber musste ich schmunzeln. Obwohl ich weiß, dass es um das Bespielen der musikalischen Tasten geht, finde ich, passt es nicht weniger zu einem Schreiberling wie mir. Ich grinse und ficke weiter.
Durch die Wüste fahren bedeutet für mich Ablenkung und Entspannung zugleich. Ich liebe die Wüste. Als wir während eines Tages während Roadtrips unsere Freundin Kate in San Francisco besuchten und auf die Frage nach unserem nächsten Etappenziel freudestrahlend antworteten: „Death Valley“, guckte sie uns ungläubig an. „Wass wollt ihr da denn? Da ist doch nichts!“ Ich finde dieses Nichts einzigartig. Heutzutage gibt es in unserer Welt von allem so viel; zu viel beinahe. Bei einer halbstündigen S-Bahn Fahrt prasseln so viele Eindrücke auf mich ein, dass ich kaum mehr weiß, wo mir der Kopf steht und trotzdem habe ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Hier in der Wüste ist mein Kopf frei. Ich sehe den Sand flach über den Boden wehen und freue mich, wenn ich das Tumble Weed hüpfen sehe. Plötzlich ist da Raum zum Denken, zum Träumen und zum Verarbeiten. Mein Atem fließt in gleichmäßigen tiefen Zügen. Von der hektischen Kurzatmigkeit, die mich in Berlin oft heimsucht, ist nichts zu spüren. Ich lächle in das weite Nichts von New Mexico hinaus.
„Hey girl, wovon träumst du?“ Bodi setzt sich zu mir an den Tisch. „Ich freue mich nur darüber, dass ich all das hier erleben darf. Diese Fahrt war auch wirklich abenteuerlich, nicht?“ „Mein Schatz, das ist noch gar nichts. Was ich hier Tag ein, Tag aus erlebe! Neben den unfassbaren Dingen, über die ich manchmal lieber hinwegsehe, sowie Zärtlichkeiten im öffentlichen Raum, werde ich um die unmöglichsten Dinge gebeten, wovon Tampons und Kondome noch die harmlosesten sind.“ Ich muss kichern, klappe mein Notebook zu und gebe die Bühne für ein paar von Bodis Lieblingsgeschichten frei. Als er eine knappe halbe Stunde später auf seine Uhr blickt, zuckt er zusammen. „Süße, die Arbeit ruft“, sagt er, während ich mir die Lachtränen aus dem Gesicht wische. „Wir sind bald da. Du solltest deine Sachen zusammen packen.“ Wir stehen von unseren Plätzen auf und nehmen uns ganz fest und herzlich in den Arm. „Danke, Bodi. Ohne dich wäre diese Zugfahrt nur halb so schön gewesen.“
Ich kehre an meinen Sitzplatz zurück und verstaue mein mobiles Büro. Es ist mittlerweile halb sechs. Um 15 Uhr hätten wir in El Paso ankommen sollen, aber die zwei Verhaftungen und der medizinische Notfall haben zu einer ordentlichen Verzögerung geführt.
„Nächster Halt El Paso. Nächster Halt El Paso. Fahrgäste, die in El Paso, Texas aussteigen, begeben sich bitte zu den Ausgängen“, dröhnt kurze Zeit später aus dem Lautsprecher. Ich nehmen meinen kleinen Rucksack und gehe die Treppe in die untere Etage des Waggons hinunter, wo die Gepäckablage ist. Ich schnalle meinen großen Trekking-Rucksack auf. Dabei ziehe ich oftmals mitleidige Blicke auf mich. „Es ist nicht so schwer, wie es aussieht“, tröste ich dann die Rollkoffer verwöhnten Menschen.
El Paso – Quadratisch, wenig praktisch, leer
Als ich aus dem Amtrak steige, schlägt mir spätnachmittägliche Hitze entgegen. Ich bestelle mir ein Uber und lasse mich zum Hotel bringen. Die Fenster des Autos sind runter gekurbelt. Das finde ich wundervoll. Nach den langen Zugfahrten sehne ich mich immer nach echter, nicht durch Klimaanlagen gefilterter Luft.
Mein erster Eindruck von El Paso: quadratisch, wenig praktisch, leer. Die Innenstadt besteht aus schmucklosen Betonbauten, die teilweise heruntergekommen sind oder gar leer stehen. Von dem Kinderladen De Colores bröckelt die Wandfarbe in großen Stücken auf die Straße. Und Eva verzichtet in ihrem Beauty Salon gänzlich auf Leuchtreklamen oder Werbeschilder und hat einfach selbst mit dem Farbpinsel ihren Namen über das Geschäft geschrieben. Die Häuser der Innenstadt scheinen gar nicht alt zu sein, trotzdem hat sich in den wenigen Jahren niemand um ihre Instandhaltung gekümmert.
Als der Uber-Fahrer schließlich in die Franklin Avenue einbiegt, ändert sich das Stadtbild. Hier stehen ein paar schöne Altbauten mit Seele und ganz sicher auch Geschichte. Eines der Gebäude ist das Gardner Hotel. Es ist das älteste Hotel von El Paso und wurde im Jahre 1922 eröffnet. Im Fenster steht eine alte hölzerne Telefonzelle. Als ich durch die schwere, mit Glas verzierte, Holz-Schwingtür gehe, betrete ich eine große Lobby, in der ein junger Mann gerade die weißen Kacheln mit einem wahnsinnig lautem Gerät bearbeitet. „Sorry wegen des Lärms!“ „Kein Problem. Auch die Kacheln müssen mal gebohnert werden.“„Nee, nicht bohnern. Bis vor kurzem hatten wir noch den blauen Teppich hier in der Lobby.“ Der junge Mann zeigt auf die Überreste des in die Jahre gekommenen Bodenbelags. „Aber wir haben uns dazu entschieden, die Original-Fliesen aus den Zwanzigern wieder freizulegen.“
Das finde ich ganz toll, weil es mich an meine wunderschöne Wohnung in Hamburg erinnert, in der ich ganz hübsche weiße Hamburger-Kacheln, mit blauen Schiffen und Leuchttürmen drauf, aus dem gleichen Jahrzehnt, hatte.
Eine freundliche Dame namens Jennie checkt mich ein und übergibt mir einen altmodischen klobigen Schlüssel. „Das wird bestimmt ganz toll aussehen, wenn es fertig ist“, ich nicke in Richtung Monstermaschine, „ich mag Hotels mit Geschichte.“ „Das freut mich. Kennst du John Dillinger?“ Ich überlege kurz, aber mit fällt nur die Metal-Band Dillinger’s Escape Plan ein. „John Dillinger war ein legendärer Bankräuber. Er und zwei Kumpanen haben 1934 hier im Hotel übernachtet.“ Plötzlich macht auch der Name der Band Sinn. Herr Dillinger scheint viel auf der Flucht gewesen zu sein. Ich bedanke mich für den Schlüssel und den kleinen Ausflug in die Geschichte des Hotels und hieve meine Sachen die enge Marmortreppe hinauf. Der Aufzug ist heute außer Betrieb.
Mit leisen Sohlen schleiche ich über den Teppich im ersten Stock zu meinem Zimmer. Es ist so still, das das Schlüsseldrehen sich im Schloss wie lautes Poltern anhört. Auch mein Zimmer hat Seele. Es ist mit gemütlichen antiken Möbeln eingerichtet, die eine wohlige Wärme ausstrahlen. Auf dem dunkelbraunen Nachtschrank steht ein schweres schwarzes Telefon mit einer Drehscheibe. Die Nummern darunter sind verschnörkelt und das Papier auf dem sie stehen vergilbt. Ich ziehe an der Schnur der Stehlampe daneben und packe ein paar Sachen aus, um mich frisch zu machen. Auf den Schachbrett-Kacheln im Bad steht eine freistehende Badewanne mit geschwungenen Füßen. Die Armaturen sehen aus wie aus alten Zeiten, scheinen aber ganz neu zu sein. Ich grinse und freue mich, dass die Hotelbesitzer es wirklich schaffen, den Charme des Hotels zu bewahren.
Ein überraschendes Wiedersehen
Obwohl ich von der langen aufregenden Zugfahrt vollkommen erledigt bin, raffe ich mich auf, um mir beim Pizza Joint an der Ecke ein Stück Pizza zu holen. Als ich mein Zimmer abschließe und höre ich eine warme freundliche Stimme. „Oh, hallo Lady!“ Mit der größtmöglichen Kommunikationsbereitschaft nach einem Tag wie diesem, murmele ich ein versucht fröhliches „Hallo!“ zurück und blicke kurz lächelnd auf, während ich mich in Richtung Treppenhaus drehe. Ich merke wie zunächst die Schockstarre eintritt. Mein Gehirn arbeitet langsam hinterher, während sich der Bogen des großen Fragezeichens in meinem Kopf, langsam aber sicher, zu einem geraden Strich lang zieht. „Bodi! Was machst du denn hier?“ „Hey Girl, ich dachte, du hast mich schon wieder vergessen! Ich wohne hier.“ „Ach, witzig. Ich auch. Hier direkt neben dir also.“ „Nein, Kleine. Ich w o h n e hier. Das ist mein Zuhause; schon seit sechs Jahren. Möchtest du reinkommen?“ Verwundert gehe ich auf Bodi zu. Er hält mir mit dem rechten Arm die Tür auf, während sein linker mich imaginär in das Zimmer schiebt.
Das Arrangement der Möbel ist das Einzige, was mich an ein Hotelzimmer erinnert. Ansonsten ist das hier ein sehr persönliches Reich. Ich sehe Familienfotos, Postkarten, Werbeflyer (mit einem Penis), einen güldenen, wie ein Oscar Award glänzenden (Penis) Award, einen Wasserkocher, einige Kameras und Objektive und Bücher ohne Ende.
„Du wohnst hier wirklich!“ „Ja, sicher doch. Als meine Tochter mit der Schule fertig war, bin ich hierher gezogen. Was brauche ich ein großes Haus oder eine Wohnung, wenn sie doch immer leer steht, weil ich im Amtrak unterwegs bin? Hier habe ich mein kleines Reich, in das ich mich zurückziehen kann. Aber ich bin kein Mensch, der sich gerne zurückzieht.“ Zweifelsohne, den Eindruck mach Bodi wirklich nicht. „Wenn ich in El Paso bin, ziehe ich meine Runden und besuche meine Freunde in den Cafés und Restaurants. Manchmal schaffe ich es nicht einmal, alle zu besuchen, da muss ich schon wieder zum Zug zurück.“
Bodi hört meinen Magen knurren. „Wolltest du gerade etwas essen gehen?“ „Ja, ich wollte mir nur schnell ein Stück Pizza an der Ecke holen. Möchtest du mit?“ „Nein, danke. Heute gönne ich mir ein bisschen Bodi-Time und ruhe mich aus.“
Bodi wieder zu treffen fühlt sich so natürlich an, dass ich vergesse, dass wir hier nicht gemeinsam in einem rumpelden Zug sitzen, sondern es ein großer Zufall ist, dass ich in diesem Hotel, in diesem Nebenzimmer gelandet bin und es gerade dann verlasse, als Bodi nach Hause kommt. Erst später, als die Pizza meinen Magen und mein gleichermaßen ausgelaugtes Hirn belebt, ärgere ich mich, dass ich Bodi nicht nach seiner Telefonnummer gefragt habe. Vielleicht klopfe ich am nächsten Tag an seine Tür?
Aller guten Zufälle sind drei
Nachdem die Sonnenstrahlen mich durch die Jalousien wachgekitzelt haben und ich munter unter der Dusche ein paar Lieder in Fantasie-Spanisch zu den Klängen aus dem Radio gesungen habe, gehe ich auf Nahrungssuche. Außerordentlich groß ist das Angebot in der Nähe meines Hotels nicht. Ich möchte mich aber nicht zu weit weg bewegen, weil unsere Straße nämlich die Straße kreuzt, auf der ich später über die große Brücke nach Mexiko spazieren möchte.
Es ist 9:18 Uhr. Mir ist, als seien alle Cafés geschlossen, dabei ist heute Freitag. Der Starbucks macht auch erst um 12 Uhr auf. Um die Zeit wollte ich schon drüben in Juárez sein. Ich schaue auf Google Maps nach und finde das Café Healthy Bite. Hört sich bei TripAdvisor gut an und vor allen Dingen: Healthy Bite hat geöffnet.
Ich bestelle mir einen Avocado Toast mit Lachs und nehme am Fenster Platz. Viel passiert davor nicht. El Paso ist eine eigenartige Stadt. Bisher habe ich das Gefühl, die Menschen verstecken sich. Der Toast sieht fantastisch aus und gerade als ich den ersten Bissen in meinen Mund schiebe, bimmelt die kleine Glocke an der Eingangstür.
Ich blicke auf und verschlucke mich fast. „Bodi“, rufe ich zeitgleich mit den zwei Damen und dem Jungen hinter der Kaffeetheke, die zusätzlich noch scheppernd ihr Arbeitsbesteck aus den Händen werfen. Wir alle feiern Bodi wie einen Popstar. Er lacht. Wir alle lachen. Bodi herzt zunächst die Damen und vollzieht einen routinierten Handschlag mit dem Jungen, bevor er sich zu mir umdreht. „So, da hast du also direkt den besten Frühstücksladen der Stadt gefunden?“ „Scheint so, willst du dich nicht zu mir setzen?“ „Nein, Süße. Ich habe leider gar keine Zeit. Ich muss doch allen „Hallo“ sagen.“ Wenn alle seine Folge-Auftritte so verlaufen wie hier im Healthy Bite, wird das ein glamouröser Tag für Bodi. Ich bin trotzdem ein bisschen enttäuscht und bitte ihn noch schnell, ein Foto mit mir zu machen. „Ich muss meinen Freunden doch von dem wohl einzig normalen Menschen auf meiner verrückten Zugfahrt erzählen.“ Bodi lacht noch einmal sein laute tiefes Lachen und zieht mich fest an sich.
Es ist irgendwie schrecklich still in dem Café als ich wieder über meinem Avocado-Brot sitze; so als hätte Bodi jegliche Euphorie mitgenommen. Ich höre das Geschirr in der Küche klimpern und ab und zu ein Auto vorbei rauschen. Gäbe es hier eine große Standuhr, wie in Tate Bertas Stube damals, würde ihr Ticken durch den ganzen Raum hallen. Dass der Tag noch mit Geschrei, Sirenen und Chaos endet, kann ich mir in diesem Moment nicht vorstellen. Das gehört auch in eine andere Geschichte, weswegen ich diesen Tag komplett vorspule.
Mein Zug nach San Antonio fährt am nächsten Tag erst um 15:35 Uhr, womit mir noch genug Zeigt für den Art & Farmers Market bleibt. Es ist noch früh, als ich ich aus meinem Zimmer auschecke und meinen Rucksack in der Rumpelkammer vom Gardner Hotel verstaue.
Etwa 20 Minuten lange gehe ich Richtung Downtown durch die gewohnt leeren Straßen von El Paso, bis ich auf mehrere Menschen treffe. Kurz hinter der nächsten Straßenecke höre und rieche ich schon Churros im Fett brutzeln.
An den meisten Marktständen wird noch gewerkelt und dekoriert. Ich hole mir einen Espresso, setze mich auf eine Bank und betrachte das emsige Treiben. Danach schlendere ich an Silberschmuck und Einhorn-Drucken vorbei, bis ich in einen verwunschenen Hinterhof komme. Die Wände sind mit Grünpflanzen berankt. Zwischen den Wänden hängen Girlanden mit Wimpeln und unten dem großen Baum dreht sich eine Discokugel. Ein DJ legt chillige House-Musik auf. Ich besorge mir schnell ein Sandwich und einen Obstsalat und setze mich in den Schatten. Ich krame mein Buch aus der Tasche hervor und blinzele ab und zu über den Seitenrand, um die ersten Tänzer des Tages zu beobachten.
Plötzlich bin ich die Kleine
Gegen Mittag marschiere ich zurück zum Gardner Hotel. Als ich um meinen Rucksack bitte, hebt der Mann hinterm Tresen seinen Zeigefinger. „Evelyn? Da habe ich eine Frage. Eigentlich ist es gegen den Datenschutz, aber Bodi hat mich gebeten, ihm Bescheid zu sagen, wenn du deine Tasche abholst. Ist das in Ordnung?“ Mein Herz macht Luftsprünge. Und ob das in Ordnung ist!
Nur wenige Minuten später, als hätte er Gewehr bei Fuß gestanden, kommt Bodi die Treppe herunter stolziert. Er schwingt die Hüften, hebt seinen rechten Arm, zieht einen mahnenden Kreis mit seinem Zeigefinger und bewegt seinen Kopf synchron dazu. „Babe, sag’ mir nicht du wärst abgereist, ohne mir Tschüss zu sagen?“ Zum Glück unterbricht Bodi mein gestammeltes „Ich, also, äh…“ mit der unsinnigsten Frage überhaupt: „Was hast du für ein Telefon?“ Was spielt das jetzt in diesem Moment für eine Rolle? „Ein iPhone, äh, 6s, genau!“ „Puh, dann habe ich ja Glück gehabt. Ich hab’s im Zug immer so nackt auf dem Tisch liegen sehen“, mahnt Bodi und wirft eine schwarze Plastiktüte auf den Hoteltresen, die mich an die Dinger erinnert, die zum Einsammeln von Hundekot benutzt werden. Ich schaue erst die Tüte, dann Bodi an. „Na, guck’ rein!“ Vorsichtig ziehe ich an der durchsichtigen Folie, die sich darin befindet und mir schießen vor Rührung fast die Tränen in die Augen. „Bodi, ich; Wow. Das ist so nett von dir.“ Ich halte eine iPhone Hülle in Form einer Oldschool Kamera in der Hand. „Jetzt passt dein Telefon zu deiner Kamera!“
Ich kann kaum beschreiben, wie viele Gefühle durch meinen Körper rasen: Dankbarkeit, Verwunderung, Überraschung und Liebe für diese wundervolle Geste sind nur einige von ihnen. Mir bleibt keine Zeit, mein Innerstes weiter zu analysieren. „Wo geht’s jetzt hin?“ „Ich denke, mein Rucksack verrät mich; zum Bahnhof. Ich wollte mir gerade ein Uber rufen.“ „Auf keinen Fall! Ich fahre dich.“ „Bodi, das ist wirklich nicht nötig.“ „Ich weiß“, sagt er, während es mir das Gepäck aus den Händen reißt und es zu seinem Auto trägt. Ich hebe kapitulierend die Schultern, lächle und winke dem Hotelangestellten zum Abschied, während ich Bodi hinterher eile.
„Was hast du schon alles von der Stadt gesehen?“ Ich erzähle ihm kurz, was gestern passiert ist. „Damn girl, du hast wirklich immer die besten Geschichten auf Lager. Pass’ auf, wir haben noch ein bisschen Zeit. Ich gebe dir eine kleine Tour.“ Auf den nächsten Kilometern erfahre ich, wo es das beste Hühnchen, die besten Quesadillas, guten Kaffe und die lustigsten Bars gibt. Tatsächlich ist El Paso in dieser Gegend ein bisschen quirliger, wobei auch hier nicht viele Menschen auf der Straße sind. An der Straßenecke höre ich, wie Bodi seinen Blinker setzt. Wir biegen in Richtung Mini-Mall ab und halten vor einem Laden namens Mom’s Fresh. „Das ist mein absoluter Lieblingsladen. Das Fast Food Essen im Zug ist kaum zu ertragen. Immer wenn es für mich wieder losgeht, decke ich mich hier mit Proviant ein. Komm’, wir holen dir etwas. My treat!“ Ich finde, Bodi mat mich schon genug ge-„treatet“, merke aber, er meint es ernst. Wir betreten den Laden und ein bekanntes Schauspiel beginnt: sämtliche Angestellte werfen ihre Arbeitswerkzeuge von sich und jubeln im Chor. Ich schmunzle; so einen Auftritt wünscht sich so manches C-Sternchen zu Hause.
„Hey Leute, wie geht’s euch?“ „Same old, same old. Bodi, erzähl’! Wie geht’s dir.“ „Gut. Aber hey, ich komme morgen noch mal mit mehr Zeit vorbei. Jetzt brauchen wir ein bisschen von eurem Energy Food für meine Freundin hier.“ Alle schauen mich an. Ich lächle schüchtern. „Du warst noch nie hier?“ „Nein, ich war nur kurz auf Durchreise in El Paso.“ „OK, cool. Hier haben wir die Shakes mit Mandel-, Hanf- und Kokosmilch. Die gibt’s in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Oder wie wäre es mit einem grünen Smoothie? Den hier habe ich mir ordentlich Ingwer gemixt. Da braucht eine Erkältung gar nicht erst darüber nachdenken, dich zu befallen. Hier unten siehst du Porridge mit Gojibeeren, Chija-Pudding oder unsere Quinoa-Salate. Die Wraps sind alle vegetarisch. Die mit Süßkartoffel kann ich dir empfehlen.“ Ich bin vollkommen überfordert mit der Auswahl. Ich will nicht unverschämt sein. Während der Vorstellung der Speisen habe ich einen Blick auf die Preisliste geworfen und entscheide mich für einen grünen Smoothie und ein Bircher Müsli. „Bitte? Soll das alles sein?“, quiekt Bodi von der Seite. „Jaja, das reicht. Danke. Ich fahre doch nur bis San Antonio.“ Bodi schüttelt den Kopf und bestellt drei weitere Shakes, einen Salat und einen Energieriegel. So schlecht scheint er bei der Bahn nicht zu verdienen. Auf dem Weg zum Auto drückt er mir seine große braune Papptüte in die Hand. „Falsche Bescheidenheit kann ich gar nicht leiden!“ Die Gefühle schwappen wieder durch meinen Körper: Dankbarkeit, Verwunderung, Überraschung und Liebe. Ich weiß, es hat keinen Sinn etwas andere als „Danke“ zu sagen.
Am Bahnhof holt Bodi einen Gepäckwagen, auf den er meinen Rucksack schmeißt. Ich habe keine Einwände, denn ich muss meinen ganzen Proviant tragen. Zielstrebig schiebt Bodi das Gepäck zum Schalter und begrüßt seinen Kollegen. „Gib’ mir mal deinen Buchungsbeleg, bitte“, fordert er mich auf. „Musst du noch mal zur Toilette?“ Ich nicke. „Dann husch, ich regle das hier schon.“
Auf der Toilette sitzend möchte ich am liebsten kurz die Zeit anhalten, um das alles hier schon ein Stück weit zu verarbeiten. Ich bin in meinem Leben früh und weit mehr als nur ein Mal mit dem Tod von Familienangehörigen konfrontiert worden und habe stets versucht, die Starke zu mimen. Das hat mich zu einer sehr eigenständigen Person gemacht. „Lass’ das, ich kann das“, geht mir leichter über die Lippen als „Kannst du mir bitte helfen?“ Diese Art über einen langen Zeitraum angewandt und die Menschen respektieren es. Übrig bleibt dann nur die Sehnsucht nach der Schulter, an die ich mich ab und zu lehnen möchte. Auch ich wünsche mir manchmal, die Kleine sein zu können. Heute bin ich die Kleine und es wirft mich aus der sonst von mir stark kontrollierten Bahn. Es ist ein schönes Gefühl, aber es macht mich auch ein bisschen traurig und ich überlege, wie es wohl gewesen wäre, behütet und betüdelt aufzuwachsen. Solche Gedanken bleiben nie lange, denn ich bin mir darüber im Klaren, dass ich ohne die ganzen steinigen Wege, nicht hier und jetzt auf dieser Toilette säße. Ich wäre nicht am anderen Ende dieses großen Landes in den Zug gestiegen und ich würde nicht diese unglaublichen Abenteuer erleben, diese einzigartigen Menschen treffen und ihre Geschichten aufsaugen.
Als ich von der Toilette zurückkomme, wedelt Bodi mit meinen Zugtickets. „Mädchen, jetzt geht’s wieder auf die Schienen!“ Wie ich seine positive Energie vermissen werden. Bodi bringt mich zu meinem Waggon und hievt meinen Rucksack in das Gepäckfach. Ich setze immer wieder zum Verabschieden an, aber jedes Mal geht Bodi einen Schritt weiter. Gerade sucht er meinen Sitzplatz. Als wir davor stehen, werfe ich meinen Proviant auf den Sitz und will gerade wieder meine Abschiedsrede beginnen. „Hey, Trisha, mein Mädchen. Komm’ mal her“, ruft er seiner Zug-Kollegin zu. „Das hier ist Evelyn.“ Ich lächle und nicke verhalten. „Sie fährt bis San Antonio. Pass’ bitte gut auf sie auf und“, seine Stimme senkt sich,„achte drauf, dass sie beide Plätze für sich behalten kann.“
Mein Herz droht vor Dankbarkeit zu platzen. Endlich dreht sich Bodi dann auch zu mir um und wir nehmen uns fest in die Arme. Mantrisch wiederhole ich immer wieder „Danke, Bodi! Danke für alles. Danke“. Mehr Worte wollen mir einfach nicht einfallen. Ich bin mir aber sicher, dass so ein feinfühliger Mensch wie er meine Dankbarkeit spüren kann.
Hier trennen sich unsere Wege nun. Bodi steigt die Treppen zum Bahnsteig hinab und winkt mir ein letztes Mal zu, bevor er direkt wieder von einem Bahnhofs-Kollegen mit einem filmreifen Handschlag begrüßte wird. Ein letztes Mal sehe ich dieses einzigartige Bodi-Strahlen.
Mit ordentlich Ruckeln setzt sich der Texas Eagle in Bewegung. Das gewohnte Hupen ertönt, als wir El Paso verlassen. Das ist der Moment, in dem ich die Fassung verliere und mir die Tränen aus den Augen schießen. Ich bin nicht traurig; ganz und gar nicht. Ich bin dankbar! Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich das hier alles erleben kann. Dankbar dafür, dass ich das hier fühlen darf.
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