„Unverhofft kommt oft“ und in Frankreich an diesem Tag mit voller, wundervoller, Wucht!

Hätte man mir vor dieser Reise erzählt, ich würde im Elsass ein Pläuschchen mit Männern mit Sturmgewehren halten, einen Anhalter mitnehmen und auf ein Rockfestival gehen, dass die ganze Franche-Comté zum Beben bringt, hätte ich das nicht geglaubt. 

Kintzheim Elsass

Die Sonne scheint auf die große Terrasse des Hôtel La Clairière mitten im Naturpark der Vogesen. Vor mir stehen drei Schnapsgläser. Diese Aussage zaubert ein stolzes Lächeln auf die Lippen einiger meiner Freunde, andere werfen ihre Stirn in Sorgenfalten. Diese kann ich beruhigen: die Gläser sind mit verschiedenen Smoothie-Sorten gefüllt. Bei Spinat mit viel zu viel Ingwer schüttelt es mich gerade. Ich nehme lieber noch einen Bissen von dem noch warmen Croissant, lehne mich im Stuhl zurück und recke mich. Ein wundervoll entspannter Morgen.

Jasper und ich grinsen uns an. Wir hatten die große Ehre, im Rahmen des #frenchcultureaward durch das Elsass und die Franche-Comté zu reisen. Wir spielten Burgfrollein, schmissen beinahe eine mehrere tausend Euro teure Vase hinunter und besuchten den Geist der Felsenkäthe in ihrer Wohn-Höhle.

Heute ist unser Zettel mit dem Reiseplan weitestgehend leer. Es steht kaum etwas auf dem Programm, außer das Eurockeennes Festival am Abend in Belfort. Bevor wir dem Rock’n’Roll frönen, wollen uns treiben lassen. Als wir am Vorabend mit einer Flasche Rosé auf dem Balkon saßen, haben wir Flohmärkte rausgesucht, die wir auf dem Weg nach Belfort besuchen wollen. Ich stibitze Jasper noch ein Gläschen von dem leckeren rote Beere Smoothie, bevor ich auf mein Zimmer eile, um meine Sachen zusammen zu packen.

Der erste Flohmarkt unserer mit weinseliger Krakelschrift geschriebenen Liste ist der in Thal-Marmourtie. Den Ort kann ich mir bei der Suche nach Straßenschildern nur mit der Eselsbrücke „Murmeltier Tal“ merken. Es ist ein bisschen wie bei einer Schnitzeljagd: wir folgen zuerst den Ortsschildern und dann den kleinen roten Papp-Schildern mit der schwarzen Aufschrift „Marché aux puces“.

Schon weit vor dem Ortseingang reihen sich die Autos am Straßenrand der Landstraße. Optimistisch fahren wir noch weiter in den Ort hinein. Tatsächlich fahren die ersten Gäste, die vermutlich die Morgengrauen-Schnäppchen abgesahnt haben, schon wieder ab, so dass wir relativ nah am Flohmarkt parken können. So dachten wir zumindest. Dass es doch noch einige Straßen sind und der Flohmarkt sich dann gefühlt 13 Kilometer lang durch die Straßen schlängelt, konnte wir noch nicht ahnen.

Flohmarkt Thal-Marmourtie

Es herrscht großes Gewusel. Die Leute sind aber entspannt. Es gibt Wurst und Wein an jeder Ecke. Die Nachbarn halten einen kurzen Plausch. Hinter den Ständen schimmern traumhafte, mit Wein bewachsene, Häuschen hervor.

Thal-Marmourtie

„Kaum zu glauben, was es hier alles zu kaufen gibt“, danke ich, als Jasper sich gerade einen überdimensionalen Plastik-Hai ansieht. Was mich wundert und sehr glücklich stimmt: alles ist unglaublich günstig hier. Ich kaufe einen Satz schöner alter Holzbretter mit Griff, die mich gerade mal 0,50 Euro kosten. Wie gut, dass ich mir kurz vorher einen Lederrucksack für 3 Euro gekauft hatte. Wer weiß, was ich da noch alles reinpacken muss?

Flohmarkt Thal-Marmourtie

Während wir die Stände entlang bummeln wird schell klar: wir schaffen keinen weiteren Flohmarkt. Auch unsere Besuch hier brechen wir irgendwann ab und gehen noch voller Schnäppchen-Euphorie zum Auto zurück, um Kurs auf Belfort zu nehmen.

Gleich hinter einem großen Sonnenblumenfeld, als wir durch einen Kreisel fahren, sieht Jasper plötzlich eine alte, mit Graffiti besprühte, Lagerhalle und möchte sie sich kurz ansehen. Wir drehen eine Extrarunde im Kreisel und nehmen die Ausfahrt Richtung Graffiti-Halle. Ich höre sein Fotografenherz vor Aufregung bis zum Beifahrersitz rüberschlagen.

Langsam rollt unser Wagen auf den Schotter. Es parken schon zwei weitere Autos da. Mir ist ein bisschen mulmig zumute. Das große Eisentor steht offen, als wird das alte Fabrikgelände betreten.

Lagerhalle Graffiti

Links steht eine große Halle mit riesigen Rohren und Turbinen, die bis unter die Decke reichen. Mein Abenteuerdrang meldet sich und ich überlege die klapprigen Eisentreppen bis nach oben zu klettern. Jaspers Gesicht sagt mir: „Evelyn, lass’ das mal lieber.“ Plötzlich hören wir Schritte. Ein junger, komplett in schwarz gekleidet und vermummter, Mann steht vor uns.

„Was wollt ihr denn hier?“ „Wir wollen uns nur ein bisschen umsehen und vielleicht ein paar Fotos machen. Wir haben das Gelände beim Vorbeifahren von der Straße aus gesehen. Das sieht richtig spannend hier aus!“ „Hm, ok. Da sind schon andere Leute, die Fotos machen, aber in ungefähr einer Viertelstunde müsst ihr weg sein. Dann spielen wir.“ Was man wohl spielt in so einer Montur? Die Frage erübrigt sich, denn zwei Kumpels von ihm kommen mit riesigen Gewehren um die Ecke. Wir treten schüchtern ein paar Schritte zurück und nicken, ohne mehr wissen zu wollen, „Ok, wir beeilen uns.“

Auf den ersten Schreck hin, muss ich beim nächsten Bild lachen. Wir haben uns in eine weitere Lagerhalle geschlichen, wo gerade ein laut gackernder Junggesellinnen-Abschied Fotos in Tutu-Röckchen macht. Das relativiert die Automatikgewehre, die ich noch vor meinen Augen haben.

Je mehr Zeit wir hier verbringen, desto wohler fühlen wir uns. Wir sehen uns die großen Graffiti-Kunstwerke an, krabbeln über Schutthaufen und fragen uns, was das hier wohl mal war, als wir einen Raum mit jeder Menge verbrannter Socken sehen.

Lagerhalle Graffiti

Gerne würden wir hier noch ein bisschen länger herumstöbern, aber wir wissen, die Jungs wollen gleich losballern. Es kommen auch immer mehr Burschen aus den verborgenen Räumen der leeren Hallen. Sie alle haben große Gastanks auf dem Rücken, deren Schläuche mit ihren Gewehren verbunden sind. Sie tragen Helme, Masken und Gelenkschutz.

Gasgewehr War Game

Wir bedanken uns, dass wir uns noch kurz umsehen durften und wünschen viel Spaß. Jasper zögert kurz und fragt dann doch, ob er es das Schießen mal ausprobieren dürfte. Wenige Sekunden später höre ich es erst knallen und ihn dann laut lachen. Es scheint eine Menge Spaß zu machen.

Wir verlassen das Gelände und steigen wieder ins Auto. Direkt am Kreisel steht ein großer, schlaksiger, junger Mann, der per Anhalter nach Belfort fahren möchte, wie sein klitzekleines Schild in den Händen verrät. Nur weil wir so langsam und nah an ihm vorbei fahren, kann ich es erkennen. Auf seinem T-Shirt steht „Get Lost“ und ich finde, das ist ein schönes Statement für einen Anhalter. „Halt an!“ rufe ich zu Jasper. Er zögert erst, aber tritt dann doch auf die Bremse.

Der junge Mann stellt sich uns als Joao vor. Er stammt aus Lissabon, wohnt aber seit längerem in Kopenhagen. Joao war gerade mit dem Interrail-Ticket in Europa unterwegs und möchte nun noch seine Tante in Belfort besuchen. Wir verstehen uns alle auf Anhieb gut und es dauert nicht lange, bis wir die Fenster runter und die Musik lauter drehen. Im Rückspiegel sehe ich, wie Joao zunächst schüchtern im Takt zur Musik nickt und sich dann doch ein Beispiel an uns nimmt und laut mitgrölt.

Salon de thé Schruoffeneger

Es ist schon weit nach Mittag, als wir in den kleinen Ort Cernay kommen. Uns knurrt der Magen und wir fragen Joao, ob es für ihn in Ordnung ist, wenn wir eine kleine Pause machen. Er grinst, als würde er sagen: „Ich dachte, ihr fragt nie!“ Wir parken am Straßenrand und blicken durch das Fenster des Salon de thé Schruoffeneger. Es gibt Torten, Petit Fours, Tartes und Pralinen – in der einen Theke, auf die wir gerade gebannt starren.

Uns läuft das Wasser im Mund zusammen. Eine nette Dame drinnen schaut uns offenbar schon länger zu, denn sie lacht mittlerweile Tränen. Als wir aufblicken ruft sie uns lachend rein. Wir bestellen einen Quiche. Joao steht wie angewurzelt neben mir. „Was ist los?“ „Ich liebe Tarte au citron! Wir können nicht fahren, ohne dass ich davon noch einen gekostet habe!“ Als Joao sich seinen Tarte nach dem Mittagessen holt, ist auch Jasper plötzlich verschwunden und kommt mit einem einem Erdbeere-Rhabarber-Tarte wieder. Ich mag diese Männer!

Von Cernay aus sind es nur noch ungefähr vierzig Kilometer nach Belfort. Unsere spontan zusammen gewürfelte Reisegruppe quasselt ohne Ende und wir sind fast ein bisschen traurig, als sich unsere Wege in Belfort trennen. Glücklich über diesen schönen Zufall posieren wir noch für ein Abschiedsbild, bevor Jasper und ich uns im Hotel in unsere Festival-Kluft werfen.

per Anhalter nach Belfort

Die ganzen Tage über hatten wir schönstes Sommerwetter. Heute zum Eurockéennes Festival regnet es; und das nicht zu wenig. Wir werfen unsere Funktionskleidung über und gehen zum Bahnhof. Von Belfort aus fährt ein Festival-Shuttle-Zug, der für alle Festivalbesucher mit Ticket kostenfrei ist. Am Bahnsteig begrüßen uns Einhörner und Glitzer-Elfen.

Das Festivalgelände des Eurockéennes ist ein Traum: auf einer Landzunge mitten in einem großen Seengebiet sind die einzelnen Bühnen in den Wald oder direkt ans Wasser gebaut. Jasper und ich haben Presseausweise bekommen und sind uns sicher, dass wir uns bei dem gerade noch prasselnden Regen in ein Pressezelt fliehen können.

Im Zelt angekommen, wird wenig später am Eingang plötzlich ein Tisch aufgebaut und jeder der hinein kommt, wird nach einer Essensmarke gefragt. Ich blicke mich um: schön gedeckte Tische, Grünpflanzen, die von der Decke hängen und in einer Ecke ein Extra-Buffet mit der Aufschrift Arcade Fire, die Headliner-Band des heutigen Festivaltages. Ich fange an zu lachen: „Jasper, wir sind im Künstlerzelt und nicht im Pressezelt.“ Hier ist alles ein bisschen opulenter. Wir schnacken ein bisschen mit dem jungen Mann der die Essensmarken kontrolliert, so dass er sich später an uns erinnern mag, wenn wir uns einfach wieder hier reinschummeln. Was für ein Glück wir haben!

Nun ist es aber kurz vor 19:00 Uhr und ich muss dringend vor die Bühne, denn gleich beginnt das Konzert von Royal Blood, einer Band, die ich sehr mag. Noch hinterm Zelt höre ich, wie die elektrische Gitarre losdonnert. Ich renne nach vorne, springe in die Höhe und rutsche doch tatsächlich in der ersten halben Minute Festivalfeierei im Matsch aus.

Rockfestival Matsch

Mein Knie total verdreht, versuche ich den Schmerz zu überspielen. Das muss einfach zu peinlich ausgehen haben. Ich springe schnell wieder auf, bin aber komplett mit Matsch eingeschmiert. In dem Moment sieht mich Jasper (er hatte mich unten in der Menge liegend nicht gefunden) und kann seinen Augen nicht trauen: „Was bitte ist in den letzten zwei Minuten passiert?“ „Ach, nichts außer meine typische Tolpatschigkeit. Aber wenigstens sehe ich jetzt durch und durch Festival tauglich aus.“

Wir lachen und hüpfen dann noch bis spät in die Nacht hinein. Was für ein verrückter Tag das war!


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