Ein Landmeedchen wäre kein Landmädchen, wenn es nicht auch bei einem Städtetrip die Flucht in die Natur ergreift. Das geht von Tallinn aus im Nu. Als wir an unserem Wochenende in der estnischen Hauptstadt ins Auto setzten, waren nur wenige Minuten Fahrt bis wir uns plötzlich inmitten schönster Natur befanden, noch weit vor unserem eigentlichen Ziel.
Hinterm Plattenbau: Natur pur
Gerade noch wurden wir in unserem APARTMENT von der Sonne wach gekitzelt, da sitzen Tini und ich schon im Auto, um einen kleinen Roadtrip zu starten. Nicht mal gefrühstückt haben wir; das machen wir auf dem Weg.
Wir lassen die Innenstadt hinter uns. Direkt hinter einer Unterführung erreichen wir die Außenbezirke. Rechteckige Betonbauten weisen uns den Weg aus Tallinn heraus. Auf manchen Fassaden sind bunte Malereien, die aber auch nicht vom tristen Plattenbau-Charme ablenken können.
Es dauert nicht lange, bis die Betonburgen einer nahezu unberührten Landschaft weichen. Wir fahren an weiten Wiesen vorbei. Auf den von der Nacht noch feuchten Spitzen der Gräser glitzert die Sonne. Ab und zu sehen wir einen Bauernhof in der Ferne. Wir befinden uns immer noch auf der Bundesstrasse. In unregelmäßigen Abständen weisen braune Hinweisschilder den Weg zu Sehenswürdigkeiten. In Windeseile googlen wir die Übersetzungen. Gerade sind wir wieder an einem vorbei gesaust; Jägala Juga steht drauf. Tini tippt auf ihrem Handy herum und brüllt plötzlich „Wasserfall, das heißt Wasserfall.” Ich mache eine Vollbremsung. Einen Wasserfall wollen wir uns nicht entgehen lassen, auch nicht vor dem Frühstück.
Ein Wasserfall zum Frühstück
Während ich Mühe habe, den Wagen auf der Schotterpiste, die mit ihren riesigen Schlaglöchern an einen Schweizer Käse erinnert, ruhig zu halten, liest Tini weiter: „Der Jägala Wasserfall ist eine acht Meter hohe Abbruchkante im Jägala Fluss.” Wir haben noch nie zuvor etwas von ihm gehört; und dass, obwohl er mit seinen 50 Metern Breite der breiteste natürliche Wasserfall Estlands sein soll.
Wir klettern direkt an der Böschung entlang auf den oberen Teil des Wasserfalls. Hier oben ist das Wasser vom heißen Sommerwetter gerade so flach und langsam, dass wir den Fluss überqueren können und uns direkt bis zur Kante vorwagen. Normalerweise fließt mehr Wasser, denn tatsächlich hat der Jägala so viel Kraft, dass jährlich ungefähr drei Zentimeter der Kante sprichwörtlich den Bach runter gehen und abbrechen.
Übrigens soll der Wasserfall ein wahres Winter-Highlight sein, weil er dann zu einer Eiswand gefriert. Besonders spektakulär soll es im Eistunnel zwischen Felsen und Eiswand aussehen, in den dann riesige Eiszapfen von der Tunneldecke hinein hängen.
Wald und Meer im Laheema National Park
Wir könnten noch weiter kraxeln oder uns ans Ufer setzen, aber unsere Mägen sind dagegen. Sie knurren nach Frühstück. Wir fahren die Küste entlang. Mittlerweile befinden wir uns mitten im Laheema National Park. Wir tuckern noch ein wenig weiter, bis wir fast an der Landspitze ankommen, wo wir zu einer kleinen Ortschaft gelangen, in der Wimpel-Ketten über den Straßen baumeln und Kinder freudig kreischend durch die Vorgärten der bunten Holzhäuschen laufen. Am Kreisel steht ein typisch skandinavisches rotes Holzhaus. Es sieht aus wie ein kleiner Tante Emma Laden mit Bistro. Die großen Buchstaben am Haus sagen Neeme Pood & Kohvik. Draußen sitzen Menschen an den Gartentischen. Als wir reingehen bimmelt eine altmodische Türglocke.
Es gibt estländisches Fastfood (also eine Menge Würstchen und frittierte Teigtaschen). In einer Glastheke liegen Gebäck und Quiche aus. Unsere Augen werden immer größer. Die Frau hinterm Tresen lacht, „Ja, das machen wir alles täglich frisch.” Die Wahl ist gefallen: es gibt eine Zimtschnecke für Tini und einen Quiche für mich. Dazu gönnen wir uns eine Zitronen-Limo. „4,50 EUR, bitte”, sagt die Frau. „Ich zahle zusammen”, erwidere ich. „Ja. 4,50 EUR, bitte.” Estland gefällt mir immer besser.
Unsere Weiterfahrt nach dem Frühstück gleicht einer Stopptanz-Party. Anstatt die großen Bundesstraßen zu fahren, entscheiden wir uns für die kleineren Straßen, die am Meer entlang führen. Einsame Buchten mit Sandstrand wechseln sich mit steiniger Küste ab, an der sich mannshohes Schilf im Wind wiegt.
Kurz hinter der Küste, wenn die Straßen einen Knick ins Landesinnere machen, säumen dichte Nadelwälder den Wegesrand. Die Sonne bricht durch die Bäume. Wir fahren durch possierliche Siedlungen und an traumhaften Buchten vorbei. Seenebel wabert durch die Wipfel einiger Nadelbäume, was dem Ganzen eine mystische Atmosphäre verleiht, besonders weil auf einigen Waldgrundstücken verlassene Häuser stehen. Lost Places-Fans steht, kommen hier voll auf ihre Kosten.
Uns gefallen die romantischen Feuerstellen am Wasser besser. Hinter der nächsten Kurve sehen wir eine Bucht, an der sogar eine Hängematte zwischen Bäumen baumelt. Wir machen eine kurze Pause und wandern die Küste zu einem kleinen Strand entlang. Das glasklare Wasser schwappt leise plätschernd an Land. Ein einziger Mann sonnt sie hier auf seinem Strandtuch. Vermutlich kann sich fast jeder an der estnischen Ostsee seinen kleinen Privatstrand suchen.
Zur Mittagszeit erreichen wir das historische Fischerdorf Altja, dessen Geschichte bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Auch hier können wir uns wieder kaum an den bunten kleinen Holzhäuschen mit wunderschönen Blumengärten satt sehen. Direkt an der See, auf einer Landzunge, stehen auch heute noch die alten Scheunen, die in den 70ern in Stand gesetzt wurden.
In der Mitte des Ortes steht die Altja Kõrts, eine reetgedeckte Taverne. Hier gibt es traditionelle estnische Speisen. Wir suchen uns einen Platz im Schatten der großen Bäume, setzen uns an einen großen groben Holztisch und bestellen Heringssalat und einen estländischen Käseteller.
Die Sümpfe von Estland
Weil wir den Morgen über ordentlich rumgebummelt haben, machen wir uns direkt nach dem Mittag auf den Rückweg, denn wir haben noch einen Zwischenstopp ganz am Rande des Laheema Nationalpark eingeplant.
Eine dreiviertel Stunde vor Tallinn, biegen wir von der Bundesstraße in Richtung Viru Bog ab. Das Wort Bog war uns bisher nicht geläufig. Bogs sind Moore. 22,3% der Oberfläche von Estland bestehen aus Sümpfen und weitere 7,7% sind Moorland, wie hier im Viru Moor. Ein Drittel der Sümpfe sind Gewässer, die mittlerweile zugewuchert sind. Die Moore, die hingegen vor 5.000 Jahren große Seen waren, sind auch heute noch feucht. Wenn ein Moor alt genug ist (das müssen mindestens 3.000 Jahre sein), flach ist und einen Durchmesser von mindesten einem Kilometer hat, sich dann in diesem Regenwasser sammelt, so wird es als Bog Pool bezeichnet. Davon soll es im Viru Moor einige geben, weswegen es auch heißt, dass der 5,5 Kilometer lange Moorfpad einer der schönsten Estlands sei.
Wir lassen unser Auto auf dem Schotterplatz am Straßenrand stehen und gehen in den Wald. Dunkelgelb leuchtet die Spätnachmittag-Sonne durch die Tannenwipfel. Nach ungefähr einem Kilometer wird der Boden feuchter und wir gelangen an einen Plankenweg. Die Bohlen leiten uns über die Moorlandschaft hinweg. Immer wieder halten wir an Schildern, die uns erklären, welche Moorpflanzen wir sehen und wo sich ehemalige Sanddünen befinden.
So weit das Auge reicht sehen wir Moor; mal mit mehr Wasser mal mit weniger. Knorrige Tannen wachsen wie Wildblumen verstreut aus den Moor-Wiesen empor. Äste ragen aus dem teilweise tiefschwarzem Wasser. Auch wenn das durch den mineralhaltigen Erdboden braune Gewässer nicht so aussieht, ist es klares reines Wasser.
Nach etwa anderthalb Kilometern erreichen wir einen Aussichtsturm, den wir sogleich erklimmen. Von hier oben können wir erst das Ausmaß des Moores richtig erahnen. Wir sehen, wie sich der Plankenweg scheinbar endlos durch die Moorlandschaft windet. Ein Bog Pool nach dem Anderen liegen entlang des Weges. Vögel fliegen über den Bäumen entlang und machen immer wieder Pause, um ein bisschen in den Pools zu schwimmen.
Da sind sie nicht die Einzigen: auf dem Rückweg grüßen wir immer wieder schmunzelnd Menschen, die uns in Badesachen und mit Handtuch über der Schulter begegnen. Das Informationsschild am Eingang wies darauf hin, dass das Schwimmen in den Bog Pools verboten sei. Wir hatten aber schon vor unserem Besuch davon gehört, dass es ein Hobby vieler Esten ist, ein Bad in Bog Pool zu nehmen. Es gibt ganz unglaubliche schöne Fotoaufnahmen davon, wie Menschen zur blauen Stunde durch Bodennebel schwimmen.
Das nehmen wir uns direkt für unseren nächsten Besuch in der traumhaft schönen Natur Estlands vor!
Informationen für deinen Ausflug in den Laheema Nationalpark
Anreise
Tallinn wird von Deutschland aus von vielen großen Fluggesellschaften angeflogen. In Tallinn kommst du sehr gut und günstig mit dem Bus oder der Straßenbahn vom Flughafen in die Innenstadt. Allerdings kostet auch ein Taxifahrt keine 10 Euro. Wichtig: die Taxitarife sind in Estland nicht gesetzlich geregelt. Du solltest vorher also vorsichtshalber nach dem zu erwartenden Preis fragen. Vor dem Flughafen stehen aber meist nur vertrauensvolle Taxiunternehmen. Wir wussten zum Beispiel vor unserer Anreise nichts von der „Gesetzlosigkeit”. Ansonsten gibt es in Tallinn übrigens auch Uber.
Als Alternative kannst du von Helsinki aus per Schiff anreisen. Die Fahrt mit der Fähre zwischen der finnischen Hauptstadt und Tallinn dauert nur ungefähr zwei Stunden. Es gibt mehrere Reedereien, die die Überfahrt anbieten.
Unterkunft
Solltest du ein ein Blogger, Influencer oder Journalist sein, legen wir dir das STORYTELLER’S NEST ans Herz. Visit Estonia bietet den Schreiberlingen während ihrer Recherchereise an, hier 3-5 Nächte kostenfrei zu übernachten. Die Wohnung liegt absolut zentral am Hafen und direkt gegenüber der Altstadt. Zu der Wohnung gehört auch ein Mietwagen.
Bewerben kannst du dich: HIER.
Unsere Ausflugsroute
Unsere Route zum Nachfahren findest du: HIER.
Unsere Highlights waren definitiv der Jägala Wasserfall und das Viru Moor. Allerdings hatten wir auch nur einen Tag Zeit für den Ausflug. Der Laheema National Park bietet noch viel mehr Wanderwege und Attraktionen. Nähere Informationen findest du: HIER.
Wenn du ein Lost-Places-Fan bist, hast du entlang unserer Route auch einiges zu bestaunen. Auf der WEBSEITE VON VISIT ESTONIA kannst sogar eine geführte Tour zu den Gruselstätten buchen. Dafür musst du dann auch nicht extra ein eigenes Auto mieten.
Vielen Herzlichen Dank an Nancy und das Storyteller’s Nest, die uns die wunderschöne Unterkunft und den Mietwagen in Tallinn gestellt haben.
Wir haben die Zeit sehr genossen!
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